Psychologie stärkt Kita-Praxis

„FBBE-Memorandum 2025“: Erste Eindrücke

Unter dem Titel „Memorandum zur Frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung in Deutschland“ wurden von den Professor:innen Rahel Dreyer (Alice Salomon Hochschule), Peter Cloos (Universität Hildesheim), Nina Hogrebe (Technische Universität Dortmund) und Ina Kaul (Universität Kassel) im Dezember 2025 Forderungen an die Politik veröffentlicht.[1]  Adressat:innen sind Bildungsministerin Prien sowie Verantwortliche in der Bundes- und Landespolitik. In zehn Punkten werden Ansprüche an eine verbesserte Kindertagesbetreuung thematisiert, die die Strukturqualität (z. B. Zugang, Personal, Kooperationen) betreffen, aber auch Aspekte der Prozessqualität (z. B. ideales Lernen, Sprachförderung) behandeln. Im Folgenden werden die Überschriften der zehn Punkte des „Memorandums“ aufgeführt, das in Kurzform (zwei Seiten Text, zwei Seiten Literatur) und in Langform (sieben Seiten Text, sechs Seiten Literatur) vorliegt. Für eine vertiefte Lektüre sei auf das Original verwiesen.

  1. Ausgangslage: Kindertageseinrichtungen als unverzichtbare Infrastruktur
  2. Der gesetzliche Auftrag: die ganzheitliche Förderung von Kindern und ihren Familien
  3. Wie Kinder lernen: Evidenz aus Forschung und Praxis
  4. Das ganzheitliche Bildungsverständnis
  5. Alltagsintegrierte Sprachbildung
  6. Zugänge schaffen
  7. Der Übergang in die Grundschule als gemeinsame Aufgabe
  8. Qualität als Schlüssel
  9. Professionalisierung und Finanzierung

Unter Punkt 10 werden die politischen Forderungen abgeleitet: Notwendig seien bundesweit einheitliche Qualitätsstandards, gerechte Zugänge, ein ganzheitliches Bildungsverständnis, bessere Arbeitsbedingungen und eine stärkere Vernetzung von Kitas, Gesundheitssystem und Schule.

369 kindheitspädagogische Expertinnen und Experten aus Universität, Hochschule und Fachpraxis haben die Stellungnahme unterschrieben, das Papier ging über Wissenschaftsverteiler viral, viele Hochschulen und frühpädagogische Institute solidarisierten sich, was dem Forderungskatalog Gewicht verleiht.

Warum „Memorandum“?

Auch der gewählte Titel vermittelt formale Autorität. Mit „Memorandum“ wollen die Autor:innen eine Form etablieren, die anschlussfähig an Politik und Verwaltung ist, um Sachverhalte, Argumente oder Empfehlungen an Entscheidungsträger:innen heranzutragen. In den letzten Jahren wurden in der Wissenschaftscommunity bereits mehrere Aufrufe an die Politik verfasst, unter anderem von Fröhlich-Gildhoff (2022), den ich mitunterschrieben habe, sowie von Dreyer (2024) mit emotional anrührend geschilderten Szenen aus der Kindertagesstätte.[2] Die Zeit der für Wissenschaftler:innen ungewohnt gefühlsbetont formulierten Warnungen vor dem „Kita-Kollaps“ scheint vorbei zu sein. Im Vergleich zu „Aufrufen“, „Plädoyers“, „Positionspapieren“ oder „Stellungnahmen“ der letzten Jahre wirkt ein mit „Memorandum“ überschriebenes Papier sachlich. Nur ein „Gutachten“ wirkt noch seriöser. Der Titel „Memorandum” erweckt den Eindruck, es ginge um Fakten, Analysen und rationale Expertise statt um Meinungen, Interessen oder Emotionen.

„Memorandum“ ist lateinisch und meint „das, woran man sich erinnern soll“. Woran erinnert werden soll, ist einleitend kompakt zusammengefasst: „Mit diesem Memorandum (in Kurz- und Langfassung) wenden wir uns als Wissenschaftler:innen im Kontext der Kindheitspädagogik an Sie [die Politiker:innen, V.V.] und legen evidenzbasierte Empfehlungen für die aktuelle und zukünftige bildungs- und sozialpolitische Gestaltung der Frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE) vor. Die Kindheitspädagogik als Disziplin bringt hier eine breite Expertise ein und betont den eigenständigen und umfassenden Bildungs-, Erziehung- und Betreuungsauftrag der FBBE. Auf Basis einer Kind-, Familien-, Lebenswelt- und Gemeinwesenorientierung fördert FBBE positive Lebensbedingungen für Kinder und ihre Familien und stärkt das demokratische Miteinander in der Gesellschaft.“ (S. 1)

Was ich unterschrieben hätte

Das Papier kam mir zur Unterschrift nicht unter. Alle Aspekte der Forderungen 1, 2, 6, 8 und 9, die die Strukturqualität (also den gesetzlichen, organisatorischen und personellen Rahmen) betreffen, könnte ich allerdings uneingeschränkt unterstützen, auch wenn ich an der einen oder anderen Stelle andere Formulierungen gewählt hätte. Sicher ist – wie in Punkt 1 ausgeführt – eine verlässliche Kindertagesbetreuung eine wichtige Säule der Sozial- und Bildungspolitik, allerdings nicht nur zur „Erwerbsbeteiligung, insbesondere von Müttern“ (S. 1), sondern für die Vereinbarkeit von Familie und Berufstätigkeit für Mütter und Väter, möchte man gleichstellungsorientiert ergänzen. Sicher hat die Kindertagesbetreuung – wie in Punkt 2 ausgeführt – ihren gesetzlichen Auftrag zu erfüllen und dabei eine Balance zwischen Selbstbestimmung und Gemeinschaftsfähigkeit zu verfolgen. Sie muss Kinderrechte als Förderung, Beteiligung und Schutz sichern und mit Eltern kooperieren. Zu Recht werden – wie in Punkt 6 – gerechte Zugänge zu Kitas gefordert, denn trotz Rechtsanspruch haben benachteiligte Kinder geringere Teilhabechancen. Deshalb müssen kostenfreie, flexible und diskriminierungsfreie Zugänge gezielt ausgebaut werden. Gute pädagogische Qualität hängt wesentlich von angemessenen Fachkraft-Kind-Schlüsseln, kleinen Gruppen und qualifiziertem Personal ab, wie unter Punkt 8 ausgeführt. Nachhaltige Qualität in der frühen Bildung erfordert gut ausgebildetes Personal sowie eine dauerhafte Bundesmitfinanzierung mit verbindlichen Qualitätsstandards, wie unter Punkt 9 betont wird. Alles d’accord.

Was ich nicht unterschrieben hätte

Bereits beim ersten Lesen bin ich über einige wesentliche Punkte gestolpert, die es mir als Lehrende und Wissenschaftlerin unmöglich gemacht hätten, dieses Positionspapier zu unterstützen. Dabei geht es um Fragen der Prozessqualität, also darum, wie Kindheitspädagogik konkret gestaltet werden soll. Kritisch sehe ich die Ausführungen zu den Punkten 3, 4, 5 und 7, die das Verständnis von Lernen, Bildung, Sprachförderung und den Übergang von der Kita in die Grundschule betreffen. Demnach lernen Kinder angeblich nur eigenaktiv, ganzheitlich und alltagsintegriert. „Standardisierte Programme“, „isolierte Förderprogramme“ oder „Vorschulklassen“ seien demnach wenig erfolgversprechend und „segregierend“ (S. 2). Aus lernpsychologischer Sicht wirken diese Zusammenfassungen des wissenschaftlichen Kenntnisstandes zu Lernen und Bildung kleiner Kinder mehr als verkürzt. An These 7 stört mich, dass der Übergang zwischen Kita und Schule als vorrangig strukturell zu lösenden Problem betrachtet und Schulbereitschaft nicht kompetenzorientiert behandelt wird.

Bereits in der Einleitung kündigte sich die Vermutung eines inhaltlichen Reduktionismus an: So wird im Papier der „eigenständige und umfassende Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsauftrag der FBBE“ betont (S. 1). Oder, um es mit Professor Hogrebe, einer der Autor:innen des „Memorandums“, zu sagen, als sie im Interview auf der Homepage ihrer Hochschule zur Botschaft des „Memorandums“ befragt wurde: „Im Kern geht es darum, das ganzheitliche Bildungsverständnis der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung zu bewahren und die Eigenlogik des Handlungsfeldes zu verstehen und nicht (ausschließlich) andere Logiken an es heranzutragen.“[3]  An dieser Äußerung wird deutlich, dass es auch um Abgrenzung und Abwertung anderer wissenschaftlicher Perspektiven auf die Kindertagesbetreuung geht.

Wissenschaftlich fragwürdige Begrenzungen

Um die Aussagekraft ihrer Arbeit zu stärken, ist es für Wissenschaftler:innen hilfreich, unterschiedliche Perspektiven zu berücksichtigen und verfügbare Wissensbestände möglichst umfassend zusammenzuführen. Einseitigkeiten sollten prinzipiell, besonders aber in öffentlichen Papieren vermieden werden, insbesondere wenn sie sogar von einem KI-Tool wie ChatGPT erkannt werden. Auf Nachfrage, ob die Aussagen in den Punkten 3, 4 und 5 (in Kurzform) tatsächlich „Evidenz aus Forschung und Praxis“ darstellen, fällt das KI-Urteil kritisch aus: Die Abgrenzung zwischen bildungsphilosophischer Zielsetzung und evidenzbasierten Wirkungszusammenhängen würde nicht klar kommuniziert. Fachlich ließe sich das Papier im „frühpädagogischen Mainstream“ verorten. Sehe ich auch so.

Grund genug, genauer hinzusehen, vor allem weil einleitend der Hinweis auf wissenschaftliche Nchweise herausgestellt wird. In den nächsten Blog-Beiträgen untersuche ich einige der hier nur global kritisierten Aussagen im Memorandum (in Kurs- und Langform) genauer auf Evidenzen:

  • „FBBE-Memorandum 2025“: Sind die Äußerungen zum Lernen von Kindern evidenzbasiert?
  • „FBBE-Memorandum 2025“: Sind die Äußerungen zu ganzheitlicher Bildung evidenzbasiert?
  • „FBBE-Memorandum 2025“: Sind die Äußerungen zu alltagsintegrierter Sprachförderung evidenzbasiert?
  • „FBBE-Memorandum 2025“: Sind partizipativ ausgerichtete Übergangskonzepte für den Übergang in die Grundschule evidenzbasiert?



[1] Dreyer, R., Cloos, P., Hogrebe, N. & Kaul, I. (2025): Memorandum zur Frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung in Deutschland. Alice Salomon Hochschule Berlin. https://doi.org/10.58123/aliceopen-794

[2] Fröhlich-Gildhoff, K. (2022). Das Kita-System steht vor dem Kollaps – Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fordern die Politik zum schnellen Handeln auf. https://www.eh-freiburg.de/wp-content/uploads/2022/09/Das_Kita_System_steht_vor_dem_Kollaps-Appell_der_Wissenschaft-31Aug2022.pdf / Dreyer, R. (2024). System der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung in Deutschland steht vor dem Kollaps. https://www.ash-berlin.eu/fileadmin/Daten/News/2024/2024_08_27_Aufruf_aus_der_Wissenschaft_zur_Kitakrise.pdf

[3] Technische Universität Darmstadt (17.12.2025). Memorandum. Frühkindliche Bildung stärken. https://www.tu-dortmund.de/detail/fruehkindliche-bildung-staerken-59133/

Hinterlasse einen Kommentar